Theorie versus Alltag – Wie treffen wir Entscheidungen? Was kann schief gehen?
Im Alltag neigen wir häufig dazu, uns von kognitiven Verzerrungen leiten zu lassen, die unsere Entscheidungen systematisch beeinflussen, oft ohne dass wir es bemerken.
Aber zunächst ein Schritt zurück:
Was genau sind kognitive Verzerrungen?
Kognitive Verzerrungen sind systematische Denkfehler, die unsere Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung verzerren. Sie entstehen meist durch unbewusste, automatische Prozesse, die uns helfen sollen, rasch Entscheidungen zu treffen. Unser Gehirn nimmt rund 11 Millionen Bits an Informationen pro Sekunde auf, verarbeiten können wir aber nur etwa 40 Bits. Um dennoch handlungsfähig zu bleiben, greifen wir auf mentale Abkürzungen zurück. Diese können nützlich sein, da sie Entscheidungen effizienter machen, führen jedoch auch dazu, dass wir Sachverhalte falsch einschätzen und fehlerhafte Entscheidungen treffen.
Es gibt zahlreiche kognitive Verzerrungen. Hier sind die wichtigsten im beruflichen Kontext, jeweils mit praktischen Beispielen:
Aktivitätsverzerrung (Action Bias)
Diese Verzerrung beschreibt die Neigung, Handlung gegenüber Inaktivität zu bevorzugen, was oft positiv wahrgenommen wird. Manchmal fühlen wir uns gezwungen zu handeln, auch wenn es keine Hinweise darauf gibt, dass dies zu besseren Ergebnissen führt. Diese Neigung, mit einer Handlung als Standardreaktion zu antworten, wird als Action Bias bezeichnet.
Im Projektkontext: In vielen Fällen kann es zu negativen Ergebnissen führen, schnelle Entscheidungen zu treffen, anstatt langsamer und überlegter vorzugehen. In Meetings neigen wir oft dazu, voreilig Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu ergreifen, anstatt Themen nochmals zu reflektieren und verschiedene Optionen abzuwägen. Es wird häufig als produktiv und effizient angesehen, eine Entscheidung sofort zu fällen, obwohl das Einholen weiterer Informationen zunächst zielführender wäre. Dabei sollte hinterfragt werden, ob die Entscheidung wirklich richtig ist oder ob man der Action Bias unterliegt.
Auswirkungsverzerrung (Affect Bias)
Die Auswirkungsverzerrung beschreibt die Tendenz, bei Entscheidungen auf unsere Emotionen statt auf konkrete Informationen zu vertrauen. Diese Herangehensweise ermöglicht es, schnell zu einer Entscheidung zu kommen, kann jedoch auch unser Urteil verzerren und uns dazu verleiten, suboptimale Entscheidungen zu treffen.
Im Projektkontext: Stell dir vor, ein Teamleiter muss entscheiden, wer von zwei Mitarbeiter:innen eine Projektleitung übernehmen soll. Mitarbeiterin A ist sehr sympathisch und seit Jahren im Team, sowie bei allen beliebt. Ihre Leistungen sind solide, aber nicht außergewöhnlich. Mitarbeiter B ist fachlich deutlich stärker, hat mehrere herausragende Projekte erfolgreich geleitet und verfügt über Führungsqualitäten, wirkt aber eher distanziert und ist im Team nicht so beliebt. Der Teamleiter entscheidet sich für Mitarbeiterin A, weil er sich mit ihr wohler fühlt, sie ihm loyal erscheint und er glaubt, dass sie „besser ins Team passt“. Dabei blendet er aus, dass Mitarbeiter B die objektiv bessere Besetzung wäre. Die Entscheidung basiert vorrangig auf emotionalen Eindrücken statt auf fachlichen Kriterien. Der Teamleiter lässt sich vom „guten Gefühl“ leiten, ein klassisches Beispiel für Affect Bias, das langfristig zu Performance-Problemen und Demotivation führen kann.
Ankereffekt (Anchoring Bias)
Der erste Eindruck zählt – manchmal zu sehr. Der Ankereffekt führt dazu, dass wir uns zu stark an die erste Information klammern, die wir zu einem Thema erhalten. Bei der Planung oder Schätzung neuer Informationen interpretieren wir diese oft nur im Kontext des ursprünglichen Ankers und bewerten diese nicht objektiv. Dies verzerrt unser Urteilsvermögen und hindert uns daran, unsere Pläne oder Einschätzungen anzupassen, wenn es nötig wäre.
Im Projektkontext: Du erhältst ein Angebot für eine Dienstleistung mit einem Preis von 50.000 €. Du hattest ursprünglich nur 30.000 € für das Projekt eingeplant. Das zweite Angebot liegt bei 39.000 €, was immer noch über deinem Budget liegt, aber du stimmst zu, da es deutlich günstiger als das erste Angebot ist. Hier verfällst du dem Ankereffekt, da du das zweite Angebot mit deinem Anker (50.000 €) vergleichst.
Basisratenfehler (Base Rate Fallacy)
Wenn uns sowohl individuelle Informationen, die spezifisch für eine Person oder ein Ereignis sind, als auch objektive Informationen und Daten präsentiert werden, neigen wir dazu, den individuellen Informationen mehr Bedeutung zu geben und die objektiven Informationen oftmals zu ignorieren. Dies kann zu systematischen Fehleinschätzungen führen.
Im Projektkontext: Du kennst sicherlich Stereotype, die mit verschiedenen Berufsgruppen oder Generationen in Verbindung gebracht werden (die auf Work-Life-Balance fokussierte Generation Z). Diese Stereotypen sind weit verbreitete, oft ungenaue Verallgemeinerungen, die dennoch häufig dazu verwendet werden, das Verhalten von Einzelpersonen vorherzusagen und dabei individuelle Fähigkeiten auszublenden.
Kognitive Dissonanz (Cognitive Dissonance)
Kognitive Dissonanz ist das psychologische Unbehagen, das entsteht, wenn wir gleichzeitig widersprüchliche Überzeugungen, Einstellungen oder Werte haben. Um diese Spannung zu lösen, ändern, rechtfertigen oder ignorieren wir die widersprüchlichen Informationen. Diese Dissonanz kann verschiedene Bereiche unseres Lebens beeinflussen, wie unsere Entscheidungen, Beziehungen und sogar Karrierewege. Das Ablehnen oder Rationalisieren von Informationen, die unseren Überzeugungen widersprechen, führt oft zu schlechten Entscheidungen. Wir ignorieren diese Informationen meist nicht, weil sie falsch sind, sondern weil sie unangenehmes psychologisches Unbehagen verursachen.
Im Projektkontext: Obwohl klar wird, dass dein Projekt nicht im geplanten Zeit- und Budgetrahmen realisierbar ist, hältst du an den ursprünglichen Annahmen fest, um dein Selbstbild nicht zu gefährden.
Bestätigungsfehler (Confirmation Bias)
Confirmation Bias beschreibt die Tendenz, Informationen, die mit unseren bestehenden Überzeugungen übereinstimmen, stärker zu gewichten und ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Tendenz kann zu schlechten Entscheidungen führen, da sie unsere Wahrnehmung der Realität verzerrt. Anstatt neue Perspektiven zu berücksichtigen, suchen wir gezielt nach Beweisen, die unsere Überzeugungen bestätigen.
Im Projektkontext: Stell dir vor, du leitest ein Softwareentwicklungsprojekt und bist überzeugt, dass die gewählte Technologie die beste Lösung darstellt. Während des Projekts treten jedoch technische Probleme auf, die auf Schwächen der Technologie hinweisen. Anstatt diese Warnsignale zu erkennen, spielst du sie herunter oder ignorierst sie, während du die positiven Aspekte der Technologie hervorhebst. Du suchst gezielt nach Informationen, die deine Entscheidung stützen, und blendest Hinweise aus, die auf eine bessere Alternative hindeuten könnten. Dadurch besteht die Gefahr, dass wichtige Probleme übersehen werden, was den Erfolg des Projekts gefährden könnte.
Dunning-Kruger-Effekt (Dunning-Kruger effect)
Menschen mit begrenztem Wissen und Fähigkeiten überschätzen häufig ihre Fähigkeiten, während Experten eher zur Selbstunterschätzung neigen und davon ausgehen, dass bestimmte Aufgaben für andere genauso einfach sind wie für sie.
Im Projektkontext: Ein Kollege glaubt nach kurzer Einarbeitung, ein neues Tool vollständig zu beherrschen, und lehnt weitere Schulungen ab, mit potenziell kritischen Folgen für das Projekt.
Rückschaufehler (Hindsight Bias)
Der Rückschaufehler beschreibt unsere Tendenz, auf ein Ereignis zurückzublicken, das wir nicht vorhersehen konnten, und zu glauben, dass es damals leicht vorhersehbar war. Dieser Effekt, auch bekannt als „Ich-hab’s-doch-schon-gewusst“-Phänomen, tritt auf, wenn unser Wissen über das Ergebnis eines Ereignisses unsere Wahrnehmung vergangener Entscheidungen oder Urteile verzerrt und uns glauben lässt, dass wir zukünftige Ereignisse besser vorhersagen können, als es tatsächlich der Fall war.
Im Projektkontext: Stell dir vor, dein Team arbeitet an einem Softwareprojekt und steht vor der Herausforderung, die beste Technologie für die langfristige Skalierbarkeit des Systems auszuwählen. Dein Team entscheidet sich für eine Technologie, die später als problematisch herausstellt, weil sie mit den wachsenden Anforderungen des Projekts nicht mithalten kann. Nachdem das Projekt Schwierigkeiten hat, schaut das Team zurück und ist sich sicher, dass die Probleme damals offensichtlich gewesen wären. Sie denken jetzt: „Es war klar, dass diese Technologie nicht skalierbar ist!“ – obwohl die Schwächen zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht erkennbar waren. Dieser Rückblick, bei dem sie glauben, im Nachhinein die richtige Lösung gewusst zu haben, ist ein typisches Beispiel für den Rückschaufehler.
Verlustaversion (Loss Aversion)
Verlustaversion ist eine kognitive Verzerrung, bei dem die emotionale Auswirkung eines Verlusts intensiver empfunden wird als die Freude über einen entsprechenden Gewinn. Verlustaversion kann unsere Entscheidungsfindung erheblich beeinträchtigen. Als Menschen neigen wir von Natur aus dazu, Verluste zu vermeiden. Doch diese Angst kann uns daran hindern, selbst gut kalkulierte Risiken mit potenziell lohnenden Erträgen einzugehen.
Im Projektkontext: Ein Projektmanager erkennt, dass ein modernes Projektmanagement-Tool (z. B. eine neue Software für Aufgabenverteilung und Zusammenarbeit) die Effizienz seines Teams erheblich steigern könnte. Dennoch zögert er, es einzuführen, weil er befürchtet, dass die Umstellung zunächst Zeit kostet, Mitarbeiter Widerstand zeigen oder Fehler auftreten könnten. Obwohl die langfristigen Gewinne (bessere Transparenz, effizientere Prozesse, weniger Fehler) die kurzfristigen Verluste (Einarbeitungsaufwand, mögliche Fehler in der Übergangsphase) überwiegen könnten, hält ihn die Verlustaversion davon ab, die Veränderung umzusetzen.
Versunkene-Kosten-Falle (Sunk-Cost-Fallacy)
Die Versunkene-Kosten-Falle beschreibt unsere Tendenz, an etwas festzuhalten, in das wir bereits viel investiert haben – sei es Zeit, Geld, Aufwand oder emotionale Energie –, selbst wenn ein Abbruch die rational bessere Entscheidung wäre.
Im Projektkontext: Ein typisches Beispiel im beruflichen Kontext ist die Weiterführung eines gescheiterten Projekts. Ein Unternehmen hat bereits erhebliche Ressourcen in die Entwicklung eines neuen Produkts gesteckt. Doch während der Umsetzung wird deutlich, dass die Marktbedingungen ungünstig sind und die Nachfrage weit hinter den Erwartungen bleibt. Statt das Projekt zu beenden und die verbleibenden Mittel effizienter einzusetzen, halten die Verantwortlichen daran fest – allein aus dem Gedanken heraus, dass bereits so viel investiert wurde. Die Angst, diese Aufwendungen als „verloren“ zu betrachten, führt dazu, dass noch mehr Zeit und Geld in ein Vorhaben fließen, das sich vermutlich nie auszahlen wird.
Null-Risiko-Verzerrung (Zero-Risk-Bias)
Die Null-Risiko-Verzerrung beschreibt unsere Tendenz, absolute Sicherheit anzustreben. Wir fühlen uns wohler, wenn wir ein Risiko vollständig eliminieren können – selbst wenn es sinnvollere Alternativen gibt, die das Gesamtrisiko stärker reduzieren würden.
Im Projektkontext: Ein IT-Team arbeitet an der Verbesserung der Cybersicherheit in einem Unternehmen. Statt sich auf umfassende Schutzmaßnahmen zu konzentrieren, investiert es unverhältnismäßig viele Ressourcen in die vollständige Beseitigung eines sehr unwahrscheinlichen, aber bekannten Sicherheitsrisikos.
Obwohl es effektivere Strategien gäbe, um die allgemeine Sicherheitslage deutlich zu verbessern, erscheint die Eliminierung eines einzelnen, klar definierten Risikos greifbarer und sicherer. Dieser Fokus auf scheinbare Gewissheit lenkt jedoch von wichtigeren, komplexeren Herausforderungen ab und führt letztlich zu einer ineffizienten Nutzung der Ressourcen.
Fazit: Warum klügere Entscheidungen möglich sind
Unser Alltag ist durchzogen von Entscheidungen, große wie kleine. Heuristiken und mentale Abkürzungen helfen, diese schnell zu treffen, doch insbesondere bei wichtigen Entscheidungen lohnt sich ein kritischer Blick auf unsere Denkprozesse.
Nicht immer lässt sich im Nachhinein klar sagen, ob eine Entscheidung richtig war, denn wir wissen selten, was passiert wäre, wenn wir uns anders entschieden hätten. Oder, wie Søren Kierkegaard es bereits im 19. Jahrhundert treffend formulierte:
„Whether I choose A or not A, I will regret it either way.“
Trotzdem gilt: Indem wir uns kognitive Verzerrungen bewusst machen, sie erkennen und gegensteuern, können wir jeden Tag ein Stück bessere Entscheidungen treffen. Reflektierter, fundierter und langfristig erfolgreicher.